Juso-Chef Philipp Türmer blickt der möglichen schwarz-roten Koalition und Bundeskanzler Friedrich Merz zwiegespalten entgegen. Eine "Liebesheirat" sei es nicht – trotzdem müsse die Regierung nun liefern. Türmer stellt klare Forderungen.

Ein Interview

Damit hat wohl auf Juso-Chef Philipp Türmer nicht gerechnet: Der designierte Kanzler Friedrich Merz (CDU) ist im ersten Wahlgang durchgefallen. Und auch wenn der Begriff historisch in den vergangenen Jahren (zu) häufig genutzt wird: dieser erfolglose erste Wahlgang kann wohl trotzdem so bezeichnet werden. Im zweiten Anlauf hat Merz es dann doch geschafft.

Mehr News zur Innenpolitik

Dass die Koalition aus Schwarz und Rot keine "Liebesheirat" würde, das hat Türmer bereits im Vorfeld klar gemacht. Trotzdem: Die staatspolitische Verantwortung, die die Mutterpartei immer wieder beschwört, treibt offenbar auch die sonst kämpferischen Jusos um. Ihr Bundesvorsitzender Philipp Türmer sieht einige Punkte im Koalitionsvertrag mit CDU und CSU nach wie vor kritisch – andere hingegen machen ihm Hoffnung.

Was ihn mit Blick auf seine eigene Partei wenig hoffnungsfroh stimmt: der Umgang mit Parteichefin Saskia Esken.

Hinweis: Das Interview wurde vor dem Tag der Kanzlerwahl geführt.

Herr Türmer, wir leben in aufgeregten Zeiten: Kann Friedrich Merz Deutschland wieder auf Kurs bringen?

Philipp Türmer: Am Ende ist es nicht nur eine Aufgabe von Friedrich Merz, sondern eine, der sich die gesamte Regierung stellen muss. Dafür gibt es hilfreiche Ansätze im Koalitionsvertrag – etwa das 500-Milliarden-Investitionspaket – aber es gibt auch Risiken. Zum Beispiel den ambitionslosen Teil zum Thema Steuern und Umverteilung. Am Ende wird es darum gehen, den Menschen glaubhaft zu vermitteln: Wir können die Probleme anpacken, wir schaffen das.

Trauen Sie Schwarz-Rot zu, den Menschen diese Sicherheit zu vermitteln?

Die große Stärke des Koalitionsvertrags ist das Finanzkapitel mit den 500-Milliarden-Euro-Investitionen. Wenn man dieses Geld jetzt sinnvoll ausgibt, kann man damit im besten Fall einen Modernisierungsschub im Land leisten. Davon würden viele Menschen ganz individuell und auch die Gesellschaft als Ganze profitieren. In anderen Bereichen geht der Koalitionsvertrag allerdings einen falschen Weg.

Ach ja?

Gerade mit Blick auf die Asyl- und die Migrationspolitik definitiv. Auch in Sachen Umverteilung und stärkerer Besteuerung hoher Vermögen und Erbschaften und Entlastung der Einkommen gibt es massive Schwächen.

Die SPD ist Juniorpartnerin in dieser Koalition. Was erwarten Sie von den Sozialdemokraten im Kabinett?

Ich erwarte, dass unsere Mannschaft kompetent ist und das entsprechende Einfühlungsvermögen für die sozialen Belange der Gesellschaft mitbringt. Dem CDU-Team ist dieser Faktor ja offenbar selbst aus Sicht des Arbeitnehmerflügels in der Union abhandengekommen.

Mittlerweile ist auch klar, wie das SPD-Ministerteam aussehen wird. Wer hat Sie überrascht?

Ich freue mich, dass Reem Alabali-Radovan nun das Entwicklungsministerium leitet. Ich schätze ihre Arbeit schon lange. Besondere Erwartungen habe ich daneben vor allem im Bereich Wohnen und Bauen, weil das Thema für junge Menschen so drängend ist. Da müssen Verena Hubertz, zukünftige Bauministerin, und Stefanie Hubig, als Justizministerin auch für den Mieter*innenschutz zuständig, schnell gemeinsam ins Machen kommen.

Ex-Arbeitsminister Hubertus Heil hat seinen Platz für die anderen beiden Männer aus Niedersachsen geräumt. Ist das der Generationenwechsel, den die SPD braucht?

Für uns Jusos steht immer die inhaltliche Ausrichtung und nicht das Alter im Vordergrund, auch wenn wir es natürlich unterstützen, wenn junge Politiker*innen eine Chance erhalten. Das tun sie SPD-seitig mit diesem Team. Aber glaubwürdig soziale Politik zu machen, dafür reicht junges Alter natürlich allein nicht aus. Das ist die Aufgabe von allen Personen, die für eine Partei in der Öffentlichkeit stehen und verantwortungsvolle Funktionen bekleiden. Das ist in meinen Augen das Entscheidende für die Zukunft – und nicht primär eine Altersfrage.

Vize-Kanzler und Finanzminister wird SPD-Chef Lars Klingbeil. Eine steile Karriere, trotz Wahlpleite.

Das ist auf jeden Fall begründungsbedürftig. Jeder, der aktuell innerhalb der SPD nach Verantwortung strebt, muss das mit einer klaren Strategie untermauern. Die SPD braucht eine Vision, wo die Partei in Zukunft hinsoll. Das muss auch Lars Klingbeil gerade in der verantwortungsvollen Position, die er jetzt bekleiden wird, liefern.

"Die SPD hat ein Problem damit, wie sie mit Frauen in verantwortungsvollen Positionen umgeht."

Philipp Türmer

Weniger gnädig steht die Partei Co-Chefin Saskia Esken gegenüber. Der Umgang mit ihr erinnert an Andrea Nahles. Hat die SPD ein Problem mit Frauen?

Wenn es so wirkt, ist da meistens auch was dran. Der Umgang mit Saskia Esken zeigt, dass SPD-Frauen unter besonderer Belastung und besonderem Druck stehen. Einem Druck, den Männer so nicht zu befürchten haben. Das ist falsch und eine ungerechte, ungleiche Behandlung.

Wie lässt sich das mit dem Grundsatz der Solidarität, den sich die SPD selbst gibt, zusammenbringen?

Gar nicht. Was wir brauchen, ist ein Kulturwandel. Aber der fängt damit an, dass wir akzeptieren müssen: Die SPD hat ein Problem damit, wie sie mit Frauen in verantwortungsvollen Positionen umgeht. Nur wenn man ein Problem klar benennt, kann man es auch adressieren. Ein erster Schritt ist es auf jeden Fall, damit aufzuhören, Gemeinheiten über die Öffentlichkeit zu kommunizieren.

Als die Ampelregierung ins Amt kam, waren die Hoffnungen und Erwartungen hoch. Die Koalition ging mit einem Vertrauensvorschuss an den Start. Bei Schwarz-Rot sieht das ganz anders aus. Was bedeutet das für die Regierungsarbeit?

Die Erwartungen an diese Regierung sind derart niedrig, dass man sie fast nur überbieten kann. Schwarz-Rot ist keine Liebesheirat, sondern eine aus der demokratischen und parlamentarischen Not geborene Regierungskoalition. Es wäre falsch, hier einen anderen Eindruck zu vermitteln. Was die Regierung jetzt zeigen muss: Dass sie trotz dieses Zwangs liefern kann.

"Nicht alle Menschen wählen die AfD aus Überzeugung. Für manche ist diese Wahlentscheidung auch ein großer Mittelfinger nach Berlin."

Philipp Türmer

Im Koalitionsvertrag gibt es viele Vorbehalte und weniger fixe Pläne. Friedrich Merz hat mit seinen Aussagen etwa zum Mindestlohn erste Erwartungen gedämpft. Hat die Koalition schon jetzt mehr versprochen als sie halten kann?

Friedrich Merz hat keinerlei Regierungserfahrung, entsprechend wird seine Kanzlerschaft zu Beginn aus On-The-Job-Learning bestehen. Man muss in einer Koalition beiden Seiten Raum geben. Für die SPD ist wichtig, dass die Mindestlohnerhöhung kommt, dass die Schuldenbremse reformiert wird und dass es eine klare Abgrenzung zur AfD geben muss. Das bedeutet auch, dass Leute wie Jens Spahn Liebäugeleien mit der AfD dringend unterlassen sollten.

Die AfD wurde mittlerweile vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Fürchten Sie trotzdem eine weitere Normalisierung der Partei im Bundestag?

Die AfD ist eine gefährliche Partei und man darf sie niemals so behandeln, als wäre sie das nicht. Ich hoffe, darüber sind sich alle Demokratinnen und Demokraten einig. Deshalb halte ich es auch für richtig, einen Prüfantrag auf Verbot der AfD durch das Bundesverfassungsgericht zu stellen.

Aber?

Neben den rechtlichen Instrumenten muss man sie auch politisch bekämpfen: Nicht alle Menschen wählen die AfD aus Überzeugung. Für manche ist diese Wahlentscheidung auch ein großer Mittelfinger nach Berlin. Das halte ich zwar für falsch, aber das ist auch Teil der Realität, die man anerkennen muss. Und gerade die können demokratische Parteien zurückgewinnen, wenn man vermittelt, dass ihre Nöte ernstgenommen und Probleme gelöst werden.

Sie haben vorhin das 500-Milliarden-Paket angesprochen, das Schwarz-Rot zumindest finanziell die Möglichkeit eröffnet, Probleme im Land anzugehen. Wo sehen Sie den größten Investitionsbedarf?

Zunächst muss die Regierung dort anfangen, wo der Schuh am meisten drückt.

Wo wäre das?

Auf der einen Seite ist das die Infrastruktur. Wenn eine Brücke kaputt ist, bricht vor Ort alles zusammen. Das sind Lebensadern für die lokale Infrastruktur und diese müssen zwingend erneuert werden. Auch die Bahn muss dringend ausgebaut und modernisiert werden. Ein nächstes Projekt sind die erneuerbaren Energien, deren Ausbau dringend vorangetrieben werden muss. Auch im Bildungssystem hakt es überall, da muss man ran.

Nicht nur die bauliche Infrastruktur hat Reformbedarf, ähnlich sieht es im sozialen Bereich aus. Ein Kernthema der SPD. Wo müssen die sozialpolitischen Schwerpunkte in den kommenden Jahren liegen?

Eine riesige Baustelle, die vor uns liegt, ist das Gesundheitssystem. Die Krankenhausreform von Karl Lauterbach ist hier die ersten Schritte gegangen. Das wird aber nicht ausreichen, um das Gesundheitssystem auf sichere Füße zu stellen und die Versorgung zu gewährleisten. Das ist nichts, was man allein über das Sondervermögen lösen kann. Was außerdem drängt, ist die Krise auf dem Mietmarkt. Wir brauchen ganz dringend deutlich mehr sozialen Wohnungsbau.

Wie kann man diesem Problem begegnen?

Einerseits muss neu gebaut, auf der anderen Seite müssen Mieten reguliert werden. Der Koalitionsvertrag hat hier gute Ansätze: Vermieter, die sich nicht an die Mietpreisbremse halten, sollen bestraft und die Mietpreisbremse als Instrument ausgeweitet werden. Außerdem soll viel für junges Wohnen getan werden, etwa der Ausbau von Wohnheimplätzen. Wenn all das zügig umgesetzt würde, könnte sich sehr schnell einiges verbessern.

Sie sagten selbst: Schwarz-Rot ist keine Liebesheirat. Wieviel staatspolitische Verantwortung verträgt die SPD als Partei noch?

Es war ein Dilemma: Wir haben nicht einmal als Jusos gefordert, diese Koalition gar nicht einzugehen, sondern nachzuverhandeln. Weil es offensichtlich keine andere Option gibt, als es ernsthaft zu probieren. Ich habe das Gefühl, im Regierungshandeln ist es immer schwieriger, sich als Partei zu finden. Doch diesen Erneuerungsprozess müssen wir jetzt in einer Koalition mit Friedrich Merz leisten, es führt kein Weg dran vorbei – auch wenn es unglaublich schwer wird. Wir haben aber keine Alternative, sonst ist die SPD irgendwann Geschichte.

Über den Gesprächspartner

  • Philipp Türmer ist seit November 2023 Vorsitzender der SPD-nahen Jugendorganisation Jusos. Er ist der Nachfolger von Jessica Rosenthal (2021-2023) und Kevin Kühnert (2017-2021). Türmer ist studierter Jurist und schreibt aktuell seine Doktorarbeit. Er stammt aus Offenbach und trat 2012 in die SPD ein.