Die Liberalen haben bei der Bundestagswahl eine historische Niederlage eingefahren. Vor dem Parteitag am Wochenende wirbt Niedersachsens FDP-Chef Konstantin Kuhle für einen Kurs der Mitte – und warnt seine Partei vor einer Radikalisierung.
Konstantin Kuhle wirkt erholt. Der niedersächsische FDP-Chef war gerade im Urlaub. Zeit, um auszuspannen. Und sicherlich auch, um über seine Partei nachzudenken. Am Wochenende treffen sich die Liberalen in Berlin zum Parteitag – das erste Mal seit dem Ausscheiden aus dem Bundestag.
Mit
Herr Kuhle, die FDP liegt am Boden. Wie oft kann sie noch aufstehen?
Konstantin Kuhle: Die FDP ist sehr erfahren darin, wiederzukommen. Es braucht in Deutschland in der Mitte des politischen Spektrums eine liberale Partei. Das lässt sich anhand vieler Themen erkennen.
Welche zum Beispiel?
Die neue Koalition agiert in der Rentenpolitik so, als würde es den demographischen Wandel nicht geben. Und sie nimmt Hunderte Milliarden neuer Schulden auf – eine Hypothek für die Zukunft. Kommende Generationen haben auch unter einer CDU-geführten Bundesregierung keine Lobby. Hier fehlt die FDP.
Der Platz im Parteiensystem ist überschaubar – und andere Parteien fangen bereits an, die Lücken zu schließen, die die FDP hinterlassen hat.
Das Parteiensystem verändert sich, das stimmt. Immer mehr Wähler entscheiden sich von Wahl zu Wahl für eine andere Partei. Die FDP ist 2013 und 2025 aus dem Bundestag geflogen. Dazwischen hat sie jeweils Wahlergebnisse geholt, die zu den besten ihrer Geschichte gehören. Diese Volatilität des Wählerverhaltens ist eine Gefahr für die FDP – aber auch eine Chance. Denn zur nächsten Wahl kann es sehr viele Bürger geben, die sich wieder eine liberale Alternative wünschen. Die FDP hat aber nur dann einen Wert, wenn sie glaubhaft für liberale Politik eintritt. Wir müssen diesen Eigenwert wieder herausstellen. Es liegt an uns.
Es liegt jetzt vor allem an Christian Dürr, der Parteichef werden will. Wie kann er die FDP nachhaltig aufrichten?
Christian Dürr ist ein Teamplayer mit viel Erfahrung in der FDP. Er ist in der Lage, unterschiedliche Köpfe mit ihren Ideen einzubinden. Es wäre ein Fehler, sich jetzt nur auf eine Person zu verlassen. Christian Dürr ist deshalb der richtige Kandidat.
Ist das gerade eine Kritik am Führungsstil von Christian Lindner?
Die FDP hat Christian Lindner sehr viel zu verdanken: nämlich den Wiedereinzug in den Bundestag 2017. Ich selbst wäre niemals in den Bundestag eingezogen, wäre nicht Christian Lindner Bundesvorsitzender gewesen. 2025, mit ihm als Spitzenkandidat, hat es nicht geklappt. Er hat eine Konsequenz gezogen, die ich richtig finde, und stellt sein Amt zur Verfügung. Jetzt sollte man Christian Dürr aber das Vertrauen entgegenbringen, seinen eigenen Weg zu gehen.
Christian Dürr ist allerdings vorbelastet. Auch er ist ein Gesicht der gescheiterten Ampel.
Christian Dürr war weder Spitzenkandidat noch Bundesvorsitzender. Deshalb ist es gut, dass sich jetzt jemand mit Erfahrung und der nötigen Vernetzung in der FDP als Kandidat zur Verfügung stellt. Es braucht personelle Veränderung und personelle Verbreiterung. Aber man kann keine Partei führen, indem man das komplette Personal austauscht. Christian Dürr hat mit Nicole Büttner eine Generalsekretärin vorgeschlagen, die noch nie ein Amt auf Bundesebene hatte und auch noch nicht der Bundestagsfraktion angehört hat. Das ist ein richtig guter Vorschlag.
Was erhoffen Sie sich von Christian Dürr?
Ich hoffe, dass er sich ein Beispiel daran nimmt, wie die Partei 2017 und 2021 in den Bundestag eingezogen ist. Nämlich als eine moderne, optimistische und zukunftsgewandte Partei, die nicht als schlechtgelaunter Abklatsch von Union oder gar AfD auftritt. Eine Partei, die sich mit Zukunftsthemen befasst, die in der Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielen. Momentan sind das vor allen Dingen die wirtschaftliche Lage, das Thema Migration, aber auch die Sicherheitslage in Europa. Ich erwarte, dass die FDP in all diesen Fragen eigene Lösungen präsentiert.
In der Ampel hat das eher schlecht geklappt.
Die FDP ist 2013 aus dem Bundestag geflogen nach einer Koalition mit der Union und sie ist 2025 aus dem Bundestag geflogen nach einer Ampelkoalition. Die Partei muss jetzt dringend für sich klären: Ist das mit dem Regieren eigentlich eine gute Idee oder nicht? Ich habe da eine ganz klare Haltung. Ich will, dass die FDP eine Gestaltungspartei der Mitte ist und keine bürgerliche Protestpartei, die jedes Mal zusammenbricht, wenn sie Kontakt mit der Realität hat.
Warum haben Sie nicht nach dem Parteivorsitz gegriffen? Sie werden immerhin seit Jahren als aussichtsreicher Kandidat gehandelt.
(lacht) Ich bin ja noch jung. Und ich hatte das große Privileg, siebeneinhalb Jahre Bundestagsabgeordneter zu sein. Das hat mir unheimlich viel Freude gemacht. Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag möchte ich jetzt wieder juristisch arbeiten. Ich bin außerdem nicht weg vom Fenster, sondern kandidiere auf dem Parteitag wieder für den Bundesvorstand.
Die Wähler vermissen die FDP bislang offenbar nicht. In Umfragen liegt die Partei weiter bei drei Prozent.
Die neue Bundesregierung ist noch keine 100 Tage im Amt. Friedrich Merz hat sich entschieden, zunächst Schwerpunkte in der Außenpolitik zu setzen. Damit wird er sich aber nicht vier Jahre über Wasser halten können. Ich bezweifele, dass diese Koalition große wirtschaftspolitische Reformen auf den Weg bringt, weil sie durch das riesige Schuldenpaket am Anfang keinerlei Anreize mehr dafür hat. Das werden die Wähler in den nächsten Monaten auch merken. Für die FDP heißt das: Es braucht Geduld. Und den Willen, zu zeigen, dass wir eine Gestaltungspartei der Mitte sind. Was uns jetzt nicht hilft, sind Debatten, ob die FDP linker oder rechter werden soll.
Also bleibt es dabei – die FDP wird nicht massentauglich? Sie spricht eine überschaubare Klientel an.
Politische Parteien müssen immer den Anspruch haben, das Leben aller Bürger zu verbessern. Karl-Hermann Flach, der erste FDP-Generalsekretär, hat das Ziel der Liberalen so beschrieben: mehr Freiheit für mehr Menschen. Freiheit macht sich nicht am Geldbeutel oder dem sozialen Hintergrund fest. Ein Beispiel: Unter Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland gibt es einen hohen Anteil an Selbstständigen. Die wählen aber meistens nicht die FDP. Obwohl sie sich Bildungs- und Aufstiegschancen für ihre Kinder wünschen, einen schlanken Staat, niedrige Steuern und Abgaben und weniger Bürokratie. Eigentlich ein hundertprozentiges Match.
Aber?
Wir erreichen sie nicht so, wie wir es gerne hätten. Man muss eben auch ausstrahlen, dass man diese Menschen sieht. Mir ist es wichtig, neue Wählergruppen zu erschließen. Dafür müssen wir ein politisches Angebot machen – und es auch entsprechend kommunizieren.
Wo muss sich die FDP dafür inhaltlich verändern?
Unsere klare Haltung beim Thema Staatsverschuldung und Generationengerechtigkeit ist richtig. Aber beim Sondervermögen für die Bundeswehr hat man gesehen, dass in besonderen Situationen auch neue Wege nötig sind. Es zeigt sich aber, dass Geld allein nichts bringt, wenn Strukturreformen ausbleiben. Trotzdem sehe ich Punkte, über die wir diskutieren sollten. Einen davon habe ich als Chef der Jungen Liberalen selbst vorangetrieben.
Welcher ist das?
In der schwarz-gelben Koalition haben wir 2011 die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen. Das war damals richtig. Heute aber ist die sicherheitspolitische Lage eine völlig andere. Und in dieser Lage wünsche ich mir, dass mehr junge Menschen mit der Bundeswehr in Kontakt kommen. Ich finde: Die Musterung sollte verpflichtend sein. Dann kann jeder selbst entscheiden, ob er zur Bundeswehr geht oder nicht, aber es kommen mehr junge Menschen mit der Bundeswehr in Kontakt.
Im letzten Wahlkampf haben sich die Liberalen als Anhängsel der Union inszeniert. Wo sehen Sie die Zukunft der FDP im Parteiensystem?
Ich sehe die FDP als optimistische Reformpartei. So waren wir in den Wahlkämpfen 2017 und 2021 erfolgreich. Und zwar als unabhängige Kraft. So haben wir zweistellige Ergebnisse eingefahren. Wir müssen so stark sein, dass wir ohne Koalitionsaussage in einen Wahlkampf gehen. Vor allem aber sollten wir eines jetzt nicht: uns selbst radikalisieren.
Wie meinen Sie das?
Wir erleben eine globale Welle des Autoritarismus, die auch den Westen erfasst hat – von Donald Trump über die AfD in Deutschland bis hin zu sehr starken Umfragewerten für die extreme Rechte in Frankreich. Für Liberale sind das keine Vorbilder.
Woran sollte sich die FDP orientieren?
Es gibt genügend positive Beispiele, etwa Polen oder auch Kanada, wo bürgerliche oder liberale Parteien zuletzt die Parlamentswahlen gewonnen haben, indem sie sich klar von autoritären Tendenzen abgegrenzt haben. Auch in Österreich ist unsere Schwesterpartei Neos erfolgreich – und Teil der Regierung. Es gibt also weltweit Vorbilder für eine reformorientierte liberale Partei der Mitte mit positiver Rhetorik. An denen sollte sich die FDP orientieren.
Über den Gesprächspartner
- Konstantin Kuhle ist 1989 im niedersächsischen Wolfenbüttel geboren. Nach Abitur und Zivildienst studierte er Jura in Hamburg und Paris. Er war von 2014 bis 2018 Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen, der Jugendorganisation der FDP. Nach der Bundestagswahl 2017 zog Kuhle in den Bundestag ein, wo er zunächst innenpolitischer Sprecher und später stellvertretender Fraktionschef war. Kuhle wird dem progressiven Flügel der FDP zugerechnet.